Ein Blick in die deutsche Gruppenseele

Das Erbe des Wolfes lässt uns nicht los.

Jeder, der die öffentliche Auseinandersetzung über die Wiederansiedlung des Wolfes in Internet und Medien verfolgt, muss an der Unsachlichkeit der Diskussion verzweifeln. In West- und Mitteleuropa wurde der Wolf nach endlosen Konflikten mit der Bevölkerung am Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhunderts weitgehend vertrieben. Wolfsunterstützer behaupten nun, dass unsere Altvorderen nur einen Sündenbock brauchten und dass durch Wölfe verursachtes Menschenleid ins Reich der Fabel verwiesen werden könne. Auch, dass wir uns von Ammenmärchen wie "Rotkäppchen" Angst machen ließen.

Tatsächlich ist es umgekehrt. Volksmärchen wie Rotkäppchen geben die sehr realen Ängste, Nöte und Wünsche der Menschen von damals wieder, eine Form der Psychotherapie, bevor es Psychotherapie gab, sozusagen. Im internationalen Vergleich kann man sehen, dass gleiche Motive in unterschiedlichen Ländern und Kulturkreisen immer wieder auftauchen. Da dies manchmal nicht mit gegenseitiger Beeinflussung zu erklären ist, wird als Erklärungsansatz häufig die von Carl Gustav Jung entwickelte sogenannte Archetypenlehre herangezogen. Hiernach verfügt die Menschheit über ein Kollektives Unbewusstes mit einem Vorrat bestimmter gemeinsamer Vorstellungen, z.B. die immer wiederkehrenden bösen Stiefmütter oder die missgünstigen Schwestern, die ausgesetzten Kinder, aber auch die glanzvolle Heirat, oder eben wilde Tiere, meist Wolf oder Bär.

Tatsächlich gibt es zahlreiche Quellen, die die Ängste unserer Vorfahren nachvollziehbar machen. Dabei muss man sich hüten, in eine anthropomorphe Denkweise zu verfallen. Es geht nicht um "Gut" oder "Böse", der Wolf ist ein Tier und handelt instinktiv. Er kennt derartige Begriffe nicht. Es geht vielmehr darum, dass Wölfe den Menschen in der Vergangenheit so geschadet haben, dass ein Leben nebeneinander nicht mehr möglich war.

Der norwegische Wildbiologe J.D.C. Linnell hat 2002 die Übergriffe auf Menschen in Skandinavien in den letzten 300 Jahren untersucht und sich auf die tödlichen Angriffe konzentriert. In den Ländern Finnland, Schweden und Norwegen sind 94 Todesfälle belegt, die meisten Opfer waren Kinder. Bei diesen Zahlen muss man von der Untergrenze ausgehen, weil, wie Linnell selbst zugibt, etliche Quellen als sogenannte "unbestätigte" Überlieferungen von den Wissenschaftlern verworfen wurden, was nahelegt, dass die Biologen Historiker in ihre Forschungen mit hätten einbeziehen sollen.

Der französische Agrarhistoriker Jean-Marc Moriceau hat die historischen Quellen in Frankreich ausgewertet und Daten über Wolfsangriffe erstellt.

Die hohe Zahl von mehreren Tausend Wolfsopfern zwischen 1580 und 1830 in Frankreich lässt Raum für Spekulation über die Gründe. Die häufigen Kriege mögen ein Grund sein, denn Kriegs- und Notzeiten waren dem Wolf immer zuträglich.

Historische Quellen zu Wölfen in Kriegszeiten: https://de.wikisource.org/wiki/Kriege_und_Raubtiere

Forstmeister a.D. Helmut Mattke führt in seiner Abhandlung "Auf uralten Wolfspässen" (Sammelband Nord-deutsche Forst-und Jagdgeschichte, WAGE-Verlag, 2000) auf der Grundlage von amtlichen Statistiken ab dem 18. Jahrhundert bis heute, sowohl nachgewiesene Fälle von menschlichen Opfern, als auch die hohen Haus- und Weidetierverluste in Europa auf, z.B. betrugen die Tierverluste allein im Jahr 1823 im Baltikum/Livland: 15.182 Schafe, 4.190 Schweine, 3.270 Ziegen, 1.807 Rinder, 1.841 Pferde, 1.873 Gänse und 713 Hunde.

Viele weitere Beispiele mit beträchtlichen Zahlen reichen bis in die 1970er Jahre der Gegenwart. Nach der Zurückdrängung der Wölfe in Westeuropa sank die Zahl der menschlichen Opfer bis auf wenige Fälle.

Je mehr man sich in diese Zahlen vertieft, je rätselhafter werden die Motive der Wolfapologeten und vor allem deren Aggressivität. (Tatsächlich wurde der Verfasserin dieser Zeilen auf einer Seite im Internet für die Publizierung von faktisch korrektem Zahlenmaterial Prügel angedroht.) Warum regt sich niemand darüber auf, dass das Wisent, im Gegensatz zum Wolf, tatsächlich kurz vor dem Aussterben steht? Warum nicht über die Bilder von gerissenen oder - schlimmer - lebend angefressenen Schafen, Rindern oder Pferden? Auch Hunde wurden schon gerissen. Allzu viele Schäfer haben bereits aufgegeben und Rinderhalter von der - tierfreundlichen - Weidehaltung Abstand nehmen müssen.

Niedersächsiche Weidetierhalter legen tote Tiere vor den Landtag ab. Quelle: Agrarheute.

Mai 2018: Mehr als 40 Schafe im Schwarzwald getötet.

Nein, mit anderen Kreaturen hat man kein Mitleid. Die Legende vom schnell mit Kehlbiss tötenden Wolf ist eben das - eine Legende, und die Forderung nach Herdenschutzhunden ist zynisch in ihrer Realitätsferne. Diejenigen, die effektiv wären, wären wiederum eine Gefahr in einer dichtbesiedelten Kulturlandschaft - das sind keine Bählämmer - von den untragbaren finanziellen Belastungen für die Tierhalter einmal abgesehen. Es ist ja auch schon eine lukrative "Herdenschutzhund"-Nachzuchtindindustrie entstanden. Gutes zu tun und dabei noch zu verdienen wird ja immer wieder gerne genommen.

Kalb - kein Kehlbiss.

Hund - zweifelhafter Kehlbiss.

Reh - kein Kehlbiss.

Esel. Und nein, Mitleid hat man nicht.

Esel, heißt es in gewissen Kreisen, vermögen die Schafe vor Wolfsangriffen zu schützen.
Sie werden gerne so dem Götzen Wolf geopfert.
Ich enthalte mich eines Kommentars, Kinder könnten hier mitlesen.

Wieso das alles von den Wolfsfreunden bestenfalls ignoriert, schlimmstenfalls geleugnet wird, darüber kann man nur spekulieren. Die meisten von ihnen dürften auch "Naturschützer" sein, aber auch Schutz und Erhaltung der Deiche durch Schafe oder der Almen, die ohne Weidetiere verkarsten würden, geht ihnen an ihrem grünokologischen Hintern vorbei.

Fest steht, es gibt für sie Tiere erster und Tiere zweiter Klasse. Immer wieder findet sich auch das Mantra vom Menschen, der "das schlimmste Raubtier" sei. Ist es verständlich, dass ich diesen Leuten dann einen Moment lang wünsche, dass sie sich in einer Steinzeithöhle wiederfinden mögen, ohne Bildung, ohne Kultur, ohne Architektur, ohne Musik oder Malerei, ohne Philosophie und Literatur und vor allem ohne Hygiene und medizinische Versorgung?

Darauf antwortet die Biologin Eva Nessenius mir:
"Das erste, was sie sehr bald tun würden, wäre das, was die Steinzeitmenschen auch getan haben: Die Raubtiere so bejagen, dass sie nicht in die Nähe ihrer Wohnhöhlen kommen."
Genau! Womit wir es hier zu tun haben ist - auch - Wohlstandsverwahrlosung.

Stefan Fügner gibt dem Ganzen in seinem Jagdblog folgende Interpretation:
Der Misanthrop ist in der Regel ein schwacher Mensch ohne großes Durchsetzungsvermögen. Er macht für seine Ausgrenzung und das Gefühl des Alleingelassenseins immer seine Mitmenschen verantwortlich, aber nie sich selber. Er sucht als schwacher Mensch Verbündete, die ihm helfen, sich von dem erlittenen Leid zu befreien. Genau diese Charaktereigenschaften hat der Wolf:

Im Wolf vereinen sich alle Charaktereigenschaften, die dem Misanthrop fehlen und für die er sein gesellschaftliches Scheitern verantwortlich macht. Der Wolf ist aus seiner Sicht stark, wild, frei, klug, rücksichtslos, durchsetzungswillig und -rächt sich nun für sein durch den Menschen erlittenes Unrecht. Für den Misanthropen ein geradezu idealer Verbündeter und ein Vorbild gegen die verhassten Mitmenschen! Mit Tier und Naturschutz hat das alles sehr wenig zu tun.
Werden diese Leute Verantwortung übernehmen, wenn die zweifellos hochintelligenten Wölfe, die schon lange gelernt haben, dass ihnen bei uns mangels Jagddruck nichts passiert, irgendwann auch einsehen, dass es einfacher ist, ein Kind vom Fahrrad zu holen, anstatt Wild nachzuhetzen oder einen hohen Weidezaun zu überwinden?

Ich bezweifle es.



Für das weitere Zahlenmaterial: https://www.wolf-nein-danke.de 
Addendum zu diesem Eintrag hier.